- 7:00
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Der Wecker klingelt. Bernadette nimmt die Karte aus dem Wecker und
steht auf. Alles genau getimed, Badezimmer, Anziehen,
Frühstück, Weg zur Bushaltestelle. Der Bus kommt, sie schiebt
die Karte in das Lesegerät, bekommt ein »OK« und fährt zur Uni.
Die Unitür öffnet sich, als Bernadette auf sie zukommt. Seit
die Induktionstechnik eingeführt wurde, ist das Uni-Leben noch
viel bequemer. Auch die Hörsaaltür öffnet sich wie von
Geisterhand. Die Vorlesung kann beginnen.
- 7:00
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Der Wecker klingelt. Ludwig nimmt die Karte raus und dreht sich noch
mal um. Er weiß, daß es knapp ist, aber fünf Minuten kann er
sich gönnen. Gerade rechtzeitig verläßt er das Wohnheim, um zum
Bus zu gehen. Der Bus kommt, die Tür geht auf, Ludwig steigt
ein, der Bus fährt los. Verdammt, wo ist die Karte? Nicht in
der Hosentasche, nicht in der Jacke, nicht im
Rucksack. Natürlich - sie liegt neben dem Wecker. Der Busfahrer
lacht bei der Frage nach dem Fahrpreis und setzt Ludwig an der
nächsten Haltestelle vor die Tür. Ludwig läuft zurück. Um diese
Uhrzeit fahren nur Busse von den Studi-Wohnheimen zur Uni,
nicht umgekehrt. Eine halbe Stunde später steht er vor der Tür
des Wohnheims. Normalerweise schwingt sie auf, wenn er auf sie
zuläuft. Wie bekommt man so eine Tür auf, wenn man keine Karte
hat? Auf dem Display neben der Tür steht »Hausmeister zur Zeit
nicht im Hause.« Er klingelt bei Bernadette. Nichts rührt sich,
sie ist nicht da. Auch sonst meldet sich niemand von seinen
Bekannten auf sein Sturmklingeln. Die Vorlesungen haben bereits
angefangen, wer ist dann schon noch im Wohnheim? Er drückt den
letzten Knopf, den er noch nicht ausprobiert hat. L. User. Nie
gehört. »Jaaaa?«
- 9:00
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Pause. Bernadette hat Hunger. Sie geht in die Cafeteria, nimmt
sich ein Brötchen und eine Tasse Kaffee, steckt die Karte in
das Lesegerät und bestätigt, daß der Betrag abgebucht werden
soll. Schön, daß es keine Schlangen mehr gibt, seit niemand
mehr nach Kleingeld suchen muß.
- 9:03
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Leo User kocht erst mal einen Kaffee. Er sieht verschlafen
aus. »Nimm meine Karte, ich gehe heute sowieso nicht in die
Uni, ich habe was besseres vor.«
Ludwig zögert einen Moment. Vielleicht ist das wirklich das
Beste, dann kommt er wenigstens in die Uni und kann sich heute
abend um seine eigene Karte kümmern.
- 9:15
-
Die Vorlesung geht weiter. Sie ist spannend gemacht und
mitschreiben braucht man auch nicht mehr, seit das Wohnheim
eine Abfahrt der Datenautobahn hat. So kommt das Skript direkt
ins Haus.
- 9:20
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Im Bus schiebt Ludwig die fremde Karte in das
Lesegerät. »Strecke nicht studienrelevant. Kosten: 5,20 DM.« Er
flucht und bestätigt. Wahrscheinlich hätte auch Leo längst in
der Uni sein müssen, Fahrten zum reinen Vergnügen gehören
schließlich nicht zum Semesterticket.
Die Unitür schwingt auf. Für die Vorlesung ist es jetzt zu
spät, die Zeit bis zur nächsten Veranstaltung läßt sich am
besten im Rechnerraum nutzen. Die Tür geht auf, Ludwig schiebt
die Karte in das Lesegerät. »Herzlich Willkommen, Leo User. Sie
waren seit 27 Tagen nicht mehr eingeloggt und haben somit einen
erheblichen Rückstand zu Ihren Kommilitonen. Bitte geben Sie
Ihr Paßwort ein.«
Ach ja, natürlich. Ludwig nimmt die Karte raus und verläßt
unverrichteter Dinge den Raum. Wenigstens in die Bibliothek
kann er noch gehen, da braucht man kein Paßwort.
- 10:05
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Die Vorlesung ist zu Ende, Bernadette geht in den
Rechnerraum. »Herzlich Willkommen, Bernadette Nutzer. Aufgrund
Ihrer hervorragenden Leistungen und großen Zuverlässigkeit ist
Ihr Stipendium um ein weiteres Semester verlängert
worden. Herzlichen Glückwunsch.«
- 10:05
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Die Tür der Bibliothek öffnet sich nicht. Auf dem Display steht
»Lesefehler, bitte Karte einschieben.« Nun gut. »Auf diese
Karte wurden drei Bücher ausgeliehen, die seit 11 Tagen
zurückgegeben werden mußten. Mahngebühr: 33 DM. Bitte
bestätigen Sie.« Ludwig bestätigt. »Die Benutzung der
Bibliothek ist Ihnen erst nach Rückgabe der Bücher wieder
gestattet.« Die Karte wird aus dem Lesegerät gespuckt, die Tür
bleibt zu.
- 10:12
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Bernadette freut sich über ihr Stipendium. So ein nettes Lob
gibt ihr den Mut, sich gleich zur nächsten Prüfung
anzumelden. Auch das geht viel einfacher, seit es die Karten
gibt: Nur ein Formular am Rechner ausfüllen, kein lästiger Gang
zum Prüfungsamt mehr.
- 11:35
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Ludwig geht zur Mensa. Er stellt sich ein schönes Menue
zusammen, bestätigt die Abbuchung von der Karte und liest: »Zu
geringes Guthaben auf der Karte. Bitte wenden Sie sich
vertrauensvoll an die Campus-Bank, das Kreditinstitut direkt in
ihrer Nähe« Das Tablett bleibt da, Ludwig geht. Auf die fremde
Karte kann er nichts von seinem gut gefüllten Girokonto
buchen. Zahlung mit Bargeld ist nicht mehr möglich. Er setzt
sich vor die Mensa und wartet.
- 12:05
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Bernadette trifft Ludwig vor der Mensa. Natürlich hilft sie
ihrem alten Bekannten aus der Klemme, gemeinsam laden sie zwei
Essen auf ein Tablett. Sie bestätigt den Betrag. Auf dem
Display steht: »Warnung: Übermäßiges Essen schadet Ihrer
Gesundheit. Bei wiederholter Fehlernährung wird Ihre
Krankenkasse benachrichtigt.«
- 13:10
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Ludwig geht zu seiner nächsten Vorlesung. Wieder erscheint die
Meldung »Bitte Karte einschieben« auf dem Display, ohne daß
sich die Tür öffnet. Er kommt der Aufforderung nach. »Sie haben
diese Veranstaltung nicht belegt. Wenn sie trotzdem an ihr
teilnehmen wollen, bestätigen sie die Zahlung von 150 DM
Gasthörergebühr für dieses Semester. Wir möchten Sie darauf
hinweisen, daß in Kürze in Hörsaal 7 eine von Ihnen belegte
Veranstaltung beginnt.« Er nimmt die Karte aus dem Lesegerät.
- 13:20
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Bernadette holt in der Bibliothek die für sie zusammengestellte
Literatur ab. Alles genau auf ihre Veranstaltungen abgestimmt,
alles auf dem neuesten Stand. Und so einfach kommt man dran:
Karte ins Lesegerät, eine Minute warten und die Bücher kommen
aus dem Lager, ohne daß man sich Gedanken machen muß, welches
Buch für welche Veranstaltung geeignet sein könnte. Obenauf
liegt die Liste der im Uni-Buchladen vorrätigen Bücher zu ihren
Lieblingsthemen mit den aktuellen Sonderangeboten.
- 14:09
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Ludwig steht in der Telefonzelle. Mit den letzten paar Groschen
Guthaben auf der Karte ruft er seine Mutter an. Er kommt heute
wohl nicht zu ihrem Geburtstag. Er muß sich darum kümmern,
wieder an seine eigene Karte zu kommen.
Dann will er sich auf den Weg nach Hause machen. Er geht auf
die Ausgangstür zu. Nichts bewegt sich. Er schiebt die Karte in
das Lesegerät, wahrscheinlich ist das wieder so ein
Lesefehler. Die Karte wird ihm entgegengespuckt, die Tür bleibt
zu.
- 14:15
-
Bernadette geht zum Labor, in der ihr Praktikum
stattfindet. Dank der für sie maßgeschneiderten Literatur ist
sie bestens vorbereitet. Den Computerfragebogen füllt sie mit
Leichtigkeit aus.
- 14:18
-
Ludwig rüttelt an der Ausgangstür, aber die absolut
diebstahlsichere Stahltür bewegt sich keinen Zentimeter.
Von hinten kommen zwei Männer. »Bitte kommen Sie mit!« Ludwig
folgt ihnen.
- 14:25
-
Bernadettes Antestat wäre erledigt. Die Materialien für den
Praktikumsversuch liegen fein säuberlich geordnet in einem
Schrank, den sie mit ihrer Karte öffnet.
- 14:26
-
Die Männer gehen zur Wachstation der Uni.
»Können Sie sich ausweisen?«
Ludwig zückt die Karte, zögert. Ist es illegal, eine fremde Karte bei
sich zu haben? Er gibt sie dem einen.
»Sind Sie Leo User?«
»...ja...«
»Sie sind vorläufig festgenommen. Sie werden verdächtigt, eine
terroristische Aktion geplant und ausgeführt zu haben.«
»Nein!«
»Alle Indizien sprechen dafür. Mit dieser Karte wurde sowohl
ein Buch über Chipkartentechnik in der Stadtbücherei entliehen,
als auch kurze Zeit darauf mehrere DIN A2-Kopien erstellt. Wir
vermuten, daß es sich um die Plakate handelt, die alle
Chipkartengegner dazu aufriefen, sich letzten Dienstag vor der
Hauptmensa zu versammeln. Zu diesem Zeitpunkt wurde die
Anwesenheit Ihrer Karte von den Induktionslesegeräten der
Hauptmensa festgestellt. Bei dieser Versammlung kam es zu
Ausschreitungen, bei denen mehrere Lesegeräte demoliert wurden,
indem mit Sekundenkleber präparierte Kartenimitationen in sie
eingeführt wurden.«
- 18:00
-
Das Praktikum ist beendet. Bernadettes hervorragende
Meßergebnisse sind auf die Karte gespeichert, damit sie die
Auswertung zuhause vornehmen kann. Jetzt gönnt sie sich einen
netten Abend im Theater, natürlich zum ermäßigten Studi-Tarif.
- 20:00
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Ludwig ist müde. Seine Beine tun weh. Die Karte hat er auf der
Wache gelassen, deshalb muß er die 8 km gehen. Es hat vier
Stunden gedauert, bis geklärt war, daß er nicht Leo User ist.
Er kommt an das Studiwohnheim. Auf dem Display an der Tür steht
»Hausmeister zur Zeit nicht im Hause.« Er schaut nach oben zu
Leos Fenster. Mit Fingerfarbe steht an der Scheibe:
»Die Realität hat unsere Phantasie längst überholt.«