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Schöne neue Chipkartenwelt...

Das, was Ihr jetzt lest, ist zwar noch ein Szenario der Zukunft, doch es kann schneller Realität werden, als uns lieb ist. Der Text stammt aus dem Chipkarten-Reader, der vom Arbeitskreis Chipkarten nach der 23.5-ten KIF in Hamburg im letzten November gebildet wurde. Mehr Infos zu Chipkarten sind im WWW zufinden unter der URL http://www.igd.fhg.de/~kumpf/AKCK/index.html
7:00
Der Wecker klingelt. Bernadette nimmt die Karte aus dem Wecker und steht auf. Alles genau getimed, Badezimmer, Anziehen, Frühstück, Weg zur Bushaltestelle. Der Bus kommt, sie schiebt die Karte in das Lesegerät, bekommt ein »OK« und fährt zur Uni.

Die Unitür öffnet sich, als Bernadette auf sie zukommt. Seit die Induktionstechnik eingeführt wurde, ist das Uni-Leben noch viel bequemer. Auch die Hörsaaltür öffnet sich wie von Geisterhand. Die Vorlesung kann beginnen.

7:00
Der Wecker klingelt. Ludwig nimmt die Karte raus und dreht sich noch mal um. Er weiß, daß es knapp ist, aber fünf Minuten kann er sich gönnen. Gerade rechtzeitig verläßt er das Wohnheim, um zum Bus zu gehen. Der Bus kommt, die Tür geht auf, Ludwig steigt ein, der Bus fährt los. Verdammt, wo ist die Karte? Nicht in der Hosentasche, nicht in der Jacke, nicht im Rucksack. Natürlich - sie liegt neben dem Wecker. Der Busfahrer lacht bei der Frage nach dem Fahrpreis und setzt Ludwig an der nächsten Haltestelle vor die Tür. Ludwig läuft zurück. Um diese Uhrzeit fahren nur Busse von den Studi-Wohnheimen zur Uni, nicht umgekehrt. Eine halbe Stunde später steht er vor der Tür des Wohnheims. Normalerweise schwingt sie auf, wenn er auf sie zuläuft. Wie bekommt man so eine Tür auf, wenn man keine Karte hat? Auf dem Display neben der Tür steht »Hausmeister zur Zeit nicht im Hause.« Er klingelt bei Bernadette. Nichts rührt sich, sie ist nicht da. Auch sonst meldet sich niemand von seinen Bekannten auf sein Sturmklingeln. Die Vorlesungen haben bereits angefangen, wer ist dann schon noch im Wohnheim? Er drückt den letzten Knopf, den er noch nicht ausprobiert hat. L. User. Nie gehört. »Jaaaa?«
9:00
Pause. Bernadette hat Hunger. Sie geht in die Cafeteria, nimmt sich ein Brötchen und eine Tasse Kaffee, steckt die Karte in das Lesegerät und bestätigt, daß der Betrag abgebucht werden soll. Schön, daß es keine Schlangen mehr gibt, seit niemand mehr nach Kleingeld suchen muß.
9:03
Leo User kocht erst mal einen Kaffee. Er sieht verschlafen aus. »Nimm meine Karte, ich gehe heute sowieso nicht in die Uni, ich habe was besseres vor.« Ludwig zögert einen Moment. Vielleicht ist das wirklich das Beste, dann kommt er wenigstens in die Uni und kann sich heute abend um seine eigene Karte kümmern.
9:15
Die Vorlesung geht weiter. Sie ist spannend gemacht und mitschreiben braucht man auch nicht mehr, seit das Wohnheim eine Abfahrt der Datenautobahn hat. So kommt das Skript direkt ins Haus.
9:20
Im Bus schiebt Ludwig die fremde Karte in das Lesegerät. »Strecke nicht studienrelevant. Kosten: 5,20 DM.« Er flucht und bestätigt. Wahrscheinlich hätte auch Leo längst in der Uni sein müssen, Fahrten zum reinen Vergnügen gehören schließlich nicht zum Semesterticket.

Die Unitür schwingt auf. Für die Vorlesung ist es jetzt zu spät, die Zeit bis zur nächsten Veranstaltung läßt sich am besten im Rechnerraum nutzen. Die Tür geht auf, Ludwig schiebt die Karte in das Lesegerät. »Herzlich Willkommen, Leo User. Sie waren seit 27 Tagen nicht mehr eingeloggt und haben somit einen erheblichen Rückstand zu Ihren Kommilitonen. Bitte geben Sie Ihr Paßwort ein.«

Ach ja, natürlich. Ludwig nimmt die Karte raus und verläßt unverrichteter Dinge den Raum. Wenigstens in die Bibliothek kann er noch gehen, da braucht man kein Paßwort.

10:05
Die Vorlesung ist zu Ende, Bernadette geht in den Rechnerraum. »Herzlich Willkommen, Bernadette Nutzer. Aufgrund Ihrer hervorragenden Leistungen und großen Zuverlässigkeit ist Ihr Stipendium um ein weiteres Semester verlängert worden. Herzlichen Glückwunsch.«
10:05
Die Tür der Bibliothek öffnet sich nicht. Auf dem Display steht »Lesefehler, bitte Karte einschieben.« Nun gut. »Auf diese Karte wurden drei Bücher ausgeliehen, die seit 11 Tagen zurückgegeben werden mußten. Mahngebühr: 33 DM. Bitte bestätigen Sie.« Ludwig bestätigt. »Die Benutzung der Bibliothek ist Ihnen erst nach Rückgabe der Bücher wieder gestattet.« Die Karte wird aus dem Lesegerät gespuckt, die Tür bleibt zu.
10:12
Bernadette freut sich über ihr Stipendium. So ein nettes Lob gibt ihr den Mut, sich gleich zur nächsten Prüfung anzumelden. Auch das geht viel einfacher, seit es die Karten gibt: Nur ein Formular am Rechner ausfüllen, kein lästiger Gang zum Prüfungsamt mehr.
11:35
Ludwig geht zur Mensa. Er stellt sich ein schönes Menue zusammen, bestätigt die Abbuchung von der Karte und liest: »Zu geringes Guthaben auf der Karte. Bitte wenden Sie sich vertrauensvoll an die Campus-Bank, das Kreditinstitut direkt in ihrer Nähe« Das Tablett bleibt da, Ludwig geht. Auf die fremde Karte kann er nichts von seinem gut gefüllten Girokonto buchen. Zahlung mit Bargeld ist nicht mehr möglich. Er setzt sich vor die Mensa und wartet.
12:05
Bernadette trifft Ludwig vor der Mensa. Natürlich hilft sie ihrem alten Bekannten aus der Klemme, gemeinsam laden sie zwei Essen auf ein Tablett. Sie bestätigt den Betrag. Auf dem Display steht: »Warnung: Übermäßiges Essen schadet Ihrer Gesundheit. Bei wiederholter Fehlernährung wird Ihre Krankenkasse benachrichtigt.«
13:10
Ludwig geht zu seiner nächsten Vorlesung. Wieder erscheint die Meldung »Bitte Karte einschieben« auf dem Display, ohne daß sich die Tür öffnet. Er kommt der Aufforderung nach. »Sie haben diese Veranstaltung nicht belegt. Wenn sie trotzdem an ihr teilnehmen wollen, bestätigen sie die Zahlung von 150 DM Gasthörergebühr für dieses Semester. Wir möchten Sie darauf hinweisen, daß in Kürze in Hörsaal 7 eine von Ihnen belegte Veranstaltung beginnt.« Er nimmt die Karte aus dem Lesegerät.
13:20
Bernadette holt in der Bibliothek die für sie zusammengestellte Literatur ab. Alles genau auf ihre Veranstaltungen abgestimmt, alles auf dem neuesten Stand. Und so einfach kommt man dran: Karte ins Lesegerät, eine Minute warten und die Bücher kommen aus dem Lager, ohne daß man sich Gedanken machen muß, welches Buch für welche Veranstaltung geeignet sein könnte. Obenauf liegt die Liste der im Uni-Buchladen vorrätigen Bücher zu ihren Lieblingsthemen mit den aktuellen Sonderangeboten.
14:09
Ludwig steht in der Telefonzelle. Mit den letzten paar Groschen Guthaben auf der Karte ruft er seine Mutter an. Er kommt heute wohl nicht zu ihrem Geburtstag. Er muß sich darum kümmern, wieder an seine eigene Karte zu kommen.

Dann will er sich auf den Weg nach Hause machen. Er geht auf die Ausgangstür zu. Nichts bewegt sich. Er schiebt die Karte in das Lesegerät, wahrscheinlich ist das wieder so ein Lesefehler. Die Karte wird ihm entgegengespuckt, die Tür bleibt zu.

14:15
Bernadette geht zum Labor, in der ihr Praktikum stattfindet. Dank der für sie maßgeschneiderten Literatur ist sie bestens vorbereitet. Den Computerfragebogen füllt sie mit Leichtigkeit aus.
14:18
Ludwig rüttelt an der Ausgangstür, aber die absolut diebstahlsichere Stahltür bewegt sich keinen Zentimeter.

Von hinten kommen zwei Männer. »Bitte kommen Sie mit!« Ludwig folgt ihnen.

14:25
Bernadettes Antestat wäre erledigt. Die Materialien für den Praktikumsversuch liegen fein säuberlich geordnet in einem Schrank, den sie mit ihrer Karte öffnet.
14:26
Die Männer gehen zur Wachstation der Uni.
»Können Sie sich ausweisen?«
Ludwig zückt die Karte, zögert. Ist es illegal, eine fremde Karte bei sich zu haben? Er gibt sie dem einen.
»Sind Sie Leo User?«
»...ja...«
»Sie sind vorläufig festgenommen. Sie werden verdächtigt, eine terroristische Aktion geplant und ausgeführt zu haben.«
»Nein!«
»Alle Indizien sprechen dafür. Mit dieser Karte wurde sowohl ein Buch über Chipkartentechnik in der Stadtbücherei entliehen, als auch kurze Zeit darauf mehrere DIN A2-Kopien erstellt. Wir vermuten, daß es sich um die Plakate handelt, die alle Chipkartengegner dazu aufriefen, sich letzten Dienstag vor der Hauptmensa zu versammeln. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Anwesenheit Ihrer Karte von den Induktionslesegeräten der Hauptmensa festgestellt. Bei dieser Versammlung kam es zu Ausschreitungen, bei denen mehrere Lesegeräte demoliert wurden, indem mit Sekundenkleber präparierte Kartenimitationen in sie eingeführt wurden.«
18:00
Das Praktikum ist beendet. Bernadettes hervorragende Meßergebnisse sind auf die Karte gespeichert, damit sie die Auswertung zuhause vornehmen kann. Jetzt gönnt sie sich einen netten Abend im Theater, natürlich zum ermäßigten Studi-Tarif.
20:00
Ludwig ist müde. Seine Beine tun weh. Die Karte hat er auf der Wache gelassen, deshalb muß er die 8 km gehen. Es hat vier Stunden gedauert, bis geklärt war, daß er nicht Leo User ist.

Er kommt an das Studiwohnheim. Auf dem Display an der Tür steht »Hausmeister zur Zeit nicht im Hause.« Er schaut nach oben zu Leos Fenster. Mit Fingerfarbe steht an der Scheibe:
»Die Realität hat unsere Phantasie längst überholt.«


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Arne Witte
Thu Jul 4 19:04:40 MET DST 1996